Simon, W.A. / Mosetter, Kurt (2022). Depression – Burn Out (Pathobiochemie – Pathophysiologie – Prävalenz – Therapie). Bielefeld. FHM Schriftenreihe, Heft 14. S. 131-169.
Depressionen sind eine immer noch unterschätzte Krankheit. Als die schwerste und am weitesten verbreitet psychiatrische Krankheit betrifft sie rund 500 Millionen Menschen. Bis zum Jahr 2030 wird sie mit einer Zahl von 34 Millionen beeinträchtigter Lebensjahre sowohl Herzkreislauferkrankungen als auch Diabetes im Ranking zur „Belastung Nummer 1“ weltweit ablösen. [1]
Energiemangel, Antriebsschwäche, Müdigkeit, Traurigkeit, mangelndes Selbstwertgefühl, Schuldgefühle, schlechter Schlaf, Essstörungen und Suizidalität betreffen nicht nur die Patienten, sondern auch alle deren Angehörige und die soziale Volkswirtschaft.
In Sinne einer übergreifenden Ordnung sollten unterschiedliche Systemebenen betrachtet werden. Eine Makroebene umfasst psychosoziale Hintergründe, eine Mesoebene die Interaktionen von Umwelt-Gehirn-Organismus und Ich-Struktur des Individuums und eine Mikroebene versucht, neuronale und molekulare Mechanismen im Stoffwechsel und im Gehirn zu erfassen.
Die Ätiologie ist ganz sicher nicht monokausal, sondern multifaktoriell. Damit sind multimodale, interdisziplinäre und fachübergreifende Konzepte, in welchen Psychotherapeuten, Psychiater, Physiotherapeuten, Fitnesstrainer, Ernährungsmediziner sowie Makro- und Mikronährstoffexperten im Team mit den Patientinnen zusammenarbeiten, gefragt.
Daraus leiten sich Forderungen nach einem breiten interdisziplinären Monitoring von Schlafparametern, psychologischen und molekularen Stressprofilen und personalisierten Konzepten ab. [2]
Bio-psycho-soziale Faktoren, chronischer Stress, traumatische Belastungen, körperliche Inaktivität, entgleiste Neurotransmitter und hormonelle Dysbalance, belastender Lebensstil, falsche Ernährung, Darm-Gehirn-Signal-Kaskaden, oxidativer Stress, mitochondriale Dysfunktionen und Mikronährstoffmangel können in individuellen biographischen Szenarien eine Vielzahl der Symptomatologien dieser Erkrankung auslösen. Diese korrelieren mit Stressreaktionsmustern unserer Hormone und Neurotransmittersysteme in den verschiedenen Nervenzellnetzwerkschleifen. [3]
Ganze Lehrbücher erörtern die Stressachsen über CRH-ACTH-Cortisol und das weitläufige Spektrum von Neurotransmittern. Heute wissen wir, dass diese Wirkungen und Ausläufer noch wesentlich tiefer gehen.
Auf der Systemebene der Physiologie und Biochemie spiegelt sich Stress in verschiedenen Phasen und primär im Energiestoffwechsel, der Funktion der Mitochondrien, in oxidativem Stress, im Leberstoffwechsel, im Magen-Darm-Trakt, im kardiovaskulären und im neuromuskulären System, dem Immunantwortverhalten und der Regulation des inneren Rhythmus wider. [4]
In diesem Sinne spielen polyätiologische Pathogenesen, genetische Vulnerabilität und epigenetische Faktoren, neurobiologische und toxikologische Faktoren gleichermaßen wichtige Rollen.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb monokausale Kurzschlüsse mit den Konzepten eindimensionaler Neurotransmitterhypothesen und der Verordnung von immer mehr Antidepressiva nicht helfen konnten. Außer der begrenzten Wirksamkeit bestimmen Nebenwirkungen die Problematik der Antidepressiva:
Agitation, Akathisie, Schwindel, Müdigkeit, Gangunsicherheit, Benommenheit, Schlaflosigkeit, Übelkeit, Sexualfunktionsstörungen, Gewichtszunahme, Suizidalität, Violence behavior, Sucht und Abhängigkeit, Taubheitsgefühle, Kribbeln, Verstopfung.
Vor diesen Zusammenhängen erscheint es keineswegs verwunderlich, dass die Prognose der Erkrankung, die therapeutischen Erfolge und die große Zahl an Neuerkrankungen in allen Altersklassen, über die letzten 50 Jahre betrachtet, sehr ernüchternde Daten liefert. [5]
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